Replik auf Norbert Lazays Rezension zum Reisebuch “In the middle of Nüscht”
Die Altmark. Ein Landstrich. Ein großer Landstrich. Eine riesige Region. Dünn besiedelt und vorwiegend in die Farbe Grün getaucht. Wiesen, Wald, Äcker, dazwischen ein paar Städte, viele kleine Dörfer. Idyllisches Ambiente. Hoch im Norden Sachsen-Anhalts gelegen. Ein Landstrich, bei dem einem ab und an die Metapher “Lost Paradies” in den Sinn kommt.
Die Altmark. Eine Region voller Gegensätze, die sich im Generationenumbruch befindet und die sich heute mehr denn je neu erfinden muss. Ein “Überlebensmittel”, dass die Region bundesweit oder gar im Europamaßstab bekannter macht, wurde noch nicht gefunden. Auch 30 Jahre nach der politischen Wende nicht. Warum nicht? Weil es nicht einfach ist. Weil man sich auf den Weg machen muss, Mut und Visionen zulassend. Und weil das Wort “Heimat” neu definiert werden müsste.
Norbert Lazay, Vorsitzender des Altmärkischen Heimatbundes e.V., widmete sich jüngst im Journal des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt dem Reisebuch “In the middle of Nüscht” von Sibylle Sperling. Traurigkeit und zugleich eine gewisse Reserviertheit sind im Duktus seiner Zeilen zu erkennen. Im Buch würde man nichts finden “über altmärkische Männer, die Geschichte machten, nichts über Frauen, die mit Herz und Hand Bleibendes in der Altmark geschaffen haben.” Die Autorin und ihre Mitstreiter hätten den Geist der Altmark nicht recht erkannt. Dieser liege darin “Verantwortung für Haus und Hof, für das Dorf und die Gemeinschaft” zu übernehmen. Der Blick zurück, Heimat alt.
Spontan fällt mir dazu ein: Was ist mit all den Menschen in der Altmark, die nicht Haus und Hof ihr Eigen nennen dürfen. Die in angemieteten Wohnungen leben. Sind das keine richtigen Altmärker?
Oh, die Altmark. Die Grüne, die Flache und auch… die Schöne.
Man kann sich wunderbar an ihr abarbeiten, man kann ihre Bewohner still beobachten, manchmal den Kopf schütteln, oft Freude empfinden. Man kann sogar etwas Neues beginnen. Neuland-Gedanken sprießen lassen. So hat es die Autorin Sibylle Sperling gemacht. Sie ist keine geborene Altmärkerin, sie ist ein Neuzuzug. Oh Schreck! Aber: In der Regel haben gerade die Zugezogenen den Blick für das Wesentliche, für das Außergewöhnliche und Idyllische einer Landschaft. Es sind nicht die “Haben-wir-schon-immer-so-gemacht”-Umstände, die die Zugezogenen anlockten. Es ist die Hoffnung auf Veränderung und Beweglichkeit, die anzieht. Lebendige Dynamik, nicht traurige Starre. Evolution eben. Der Blick nach vorne, Heimat neu.
Es gilt also – um auf den Ausgangspunkt der Replik zurückzukommen – zu hinterfragen, was die Altmark ausmacht. Was sie lebens- und liebenswert macht für Alteingesessene und Hinzugekommene. Gewiss ist: Regionale Selbstverständnisse bleiben nicht über Jahrhunderte unangetastet erhalten. Man kann etwas kultivieren, historisieren und im Museum zeigen, aber davon wird es meist nicht besser für die Region. Selbstverständnisse müssen erneuert oder gar gewandelt werden, um im Strom der Zeit zu überleben. Horizonte müssen neu entdeckt werden. Und vielleicht lohnt es sich den Blick zu heben und zu schauen, wie sich die Welt hinter dem altmärkischen Horizont verändert und wie woanders Altes und Neues zueinander finden. Das gilt für Heimatforscher gleichermaßen wie für die kommunale Politik, für uns alle.
Was können wir lernen von den Regionen um uns herum? Auch von europäischen, gar globalen Entwicklungsprozessen?
Wie werden dort Regionalentwicklung und Zukunft in den Blick genommen und bewusst gestaltet? Wie versucht man dort ein positives Futurum zu generieren, Wirtschaft anzukurbeln, die Stimmung zu verbessern? Genau das fehlt in der Altmark. Unsere Region lebt für sich dahin. Schwankt. Ein in die Jahre gekommenes Schiff, das küstennah unterwegs ist, sich nicht auf die hohe See der neuen Ideen und gemeinschaftlichen Diskussionen hinauswagt. Es könnte Ungeheuerliches dort draußen warten…
Erwartungen an die regionale Politik und Verwaltung sollte man nicht haben. Dort gibt es keine großen Ideen, dort geht es um kleinmütige Machtverhältnisse. Das Handwerkzeug für die innovativen Schübe, die mutigen Gedanken fehlt. Blühende Landschaften – das wünscht man sich dort zwar sehr, aber für die Vision und gar für die Umsetzung ist man nicht “verantwortlich”. Man verwaltet lieber geruhsam vor sich hin. Verantwortlich sind immer die anderen: das Bundesland, die Bundesregierung, die EU, die Gesetze, die Bürger.
Und so muss sich vielleicht tatsächlich der Bürger auf den Weg machen, sich etwas einfallen lassen. Krise selbst meistern. Von unten. Sibylle Sperling hat das einfach mal gemacht. Einen Weg aufgezeigt. Es scheint mir eine mentale Meisterleistung zu sein. Das beste Altmark-Buch seit 30 Jahren. Vielen hat sie damit die Augen geöffnet, vielen Altmärkern auch. Etliche sind nun wieder stolz, aus der Altmark zu kommen.
Und Menschen aus Hamburg, Dresden, Leipzig, dem Ruhrgebiet oder München sehen die Altmark durch das Nüscht-Reisebuch nun vielleicht aus einem Blickwinkel, der den einen oder anderen Dichtestress genervten Großstädter veranlassen könnte zu fragen: Wie war das nochmal mit der Altmark? Wo war das nochmal genau? Das Nüscht… hört sich gut an. Da will ich hin, wohnen, sein, leben. Ruhe finden. Gutes gestalten. Nüscht wie hin ins “Lost Paradies”.
Amanda Hasenfusz, Kunsthistorikerin M. A., Altmärkerin, in Gardelegen geboren. Ab dem 16. Lebensjahr außerhalb der Altmark unterwegs zu Ausbildung, Universitätsstudium und Jobs.
Mit 40 Jahren zurückgekehrt ins Nüscht, in ein winziges Dorf am “Grünen Band Deutschland”, eine Hofstelle saniert mit dem Mann ihres Lebens. Ein kleines Unternehmen aufgebaut. Geschult im Blick und sensibel für politische und soziale Umstände sowie menschliche Eigenarten. Die Altmark schien ihr ein guter Ort zum Leben. Und das ist sie tatsächlich! Aber eben nicht aus Gründen, die Norbert Lazay anführte, sondern aus Stimmungen und Gefühlen, die in Sibylle Sperlings Buch nachzulesen sind.