Immer Ende August lockt der “Zauberwald” in Pretzier, ein lauschiger Platz 8 km östlich von Salzwedel, um die 1.300 Menschen zu einem Altmark-Festival, das sich als Schatztruhe voller Überraschungen entpuppt. Die Besucher feiern das Leben, die Musik, das Beisammensein – einen kollektiven Mittsommertraum. Hygge auf altmärkisch. Und das gibts wieder am 26. und 27. August 2022.

Foto: Sabrina Beyer

Noch zwei Tage, dann heißt es: Tasche packen, aber sparsam nur das Nötigste: Schlafsack, Wechselsachen, ein bisschen Verpflegung. Alles rein in den Qek Aero, fix ans Auto hängen. Fertig, los. So geht “Alltag aus, Kurzurlaub an” für mich. Generell. Und speziell was das Festival angeht? Sagen wir so: Welche Bands eigentlich spielen ist im Vorfeld für viele Festivalbesucher eher Nebensache. Hauptsache rechtzeitig, am besten schon im Frühjahr, ein Ticket sichern. Musik wird es geben, das steht ja fest. Und was für welche! Beim Forest Jump Line-Up ist für jeden was dabei – immer und auch dieses Jahr.

2019 bin ich das erste Mal dort. Schande, peinlich irgendwie, denn zu dem Zeitpunkt lebe ich bereits wieder acht Jahre in der Altmark; habe erst nüscht von jewusst und dann nicht jeschafft. Bei der Planung für Teil 2 des Reisebuchs “In the middle of Nüscht – Go West” aber stand für mich von Anfang an felsenfest: das Festival MUSS rein, ich fahre hin. Was mich erwartet, haut mich um. Mindestens genauso die “Wie-es-dazu-kam”-Geschichte (hier als Auszug, komplett mit Tipps in der direkten Umgebung im Buch nachzulesen).

Foto: Sabrina Beyer

Forest Jump Crew: Brennen für eine Sache, die von Herzen kommt

Zeitsprung Sommer 2011: “Lass doch mal ‘ne richtig fette Party feiern – ein Festival! Nur für uns”, so faszinierend einfach beginnt die Geschichte von Forest Jump, erzählt Gründungsmitglied Tillmann Loth und mehr als nur ein Hauch jugendlicher Übermut von damals lodert noch in ihm; bahnt sich ungehemmt den Weg nach außen bei der Frage nach den Anfangsjahren. Pures Feuer ist es. Brennen für eine Sache, die von Herzen kommt. Der Grund, warum manche Projekte wie von selbst funktionieren und katapultartig durch die Decke gehen… Jedenfalls, so oder ähnlich müsse es gewesen sein. Ganz genau wisse das keiner mehr von den sechs Urgesteinen. Aber sie haben etwa um die gleiche Zeit herum Geburtstag, stehen auf eigenen Beinen, an der Schwelle zum “echten Erwachsenenleben” und an einer, wo sich Wege wegen Ausbildung, Beruf, Studium, Auslandsjahr oder Beziehung gabeln, manchmal sogar trennen. Zumindest räumlich. “Wir hatten einfach Bock, uns selbst zu feiern, hier Zuhause, alle zusammen!”, erinnert sich der zwei Jahre ältere Bruder Felix, zu jener Zeit selbst gerade erst 22 Jahre alt. “Tja, und dann haben wir eben mal Festival gespielt“, fügt Tillmann mit einem kehligen Lachen an, das den ganzen Körper durchschüttelt. Eins von der Sorte, das dich sofort ansteckt und mitreißt ob du willst oder nicht.

Foto: Sabrina Beyer

Hygge auf altmärkisch beim Altmark-Woodstock im Kleinformat

Exakt von dieser Sorte ist das Forest Jump Festival. Ansteckend. Mitreißend. Ein kollektiver Mittsommertraum. Abtauchen in eine andere Welt. Und die beginnt mit dem ersten Schritt durch die pompöse Eingangspyramide, fachmännisch aus ausgedienten Paletten zusammengezimmert. Sie markiert die Grenze zur Alltagswelt. Ich jedenfalls bin verzaubert und mit mir 1.299 weitere Freunde vom “Altmark-Woodstock im Kleinformat”, die Massenveranstaltungen nichts (oder nichts mehr) abgewinnen können, eine Lanze brechen wollen für Musik und Kunst, Solidarität und Toleranz, Freiheit und Gleichheit, Landleben irgendwie auch. Es ist unglaublich friedlich, familiär und vor allem bleibt es zwei Tage lang so. Selbst nachts auf dem Zeltplatz, wo Jung bis Mittelalt nebeneinander ihre Lager aufgeschlagen haben. Das fällt auf. Hygge auf altmärkisch, denke ich fasziniert von der Leichtigkeit vor Ort. Wie die bunte, zufällige Gemeinschaft den “Zauberwald Pretzier” belebt und miteinander umgeht. Nämlich hyggelig. So sagt man in Skandinavien für gemütlich, angenehm, herzlich. Man freut sich am Beisammensein, kommt entspannt auch mit bis eben noch Fremden an der Theke, an der “Frittenbude”, am Siebdruck T-Shirt Stand ins Gespräch. Oder bei einer der vielen “Spielereien” auf dem Gelände. Da wären Kicker, Tischtennisplatte, Riesenschaukel, Baumhausempore mit Rutsche, Skaterrampe, eine gigantische Hängematte, das Menschenlaufrad und weitere Entspannungsinseln wie die Dia- und Kunstausstellung oder das drehende Dorfwohnzimmer. Jedes Jahr kommt etwas Neues dazu. 2022? Keine Ahnung. Lassen wir uns überraschen.

Foto: Sabrina Beyer

Eine Schatztruhe voller Überraschungen

Das Festival entpuppt sich als Schatztruhe voller Überraschungen. Auch in Sachen Deko mit Traumfängern und fantasievollen Lichtinstallationen in den Bäumen. In Sachen Essen und Trinken ebenso. Im Angebot ist rein vegetarisches Essen – die fast schon legendären Fritten sind aus Kartoffeln, die bei den Loths auf einem extra dafür angelegten Feld wachsen und per Hand in Form gebracht werden. Alles frisch. Ein kleinstmöglicher ökologischer Fußabdruck insgesamt. Das muss sein. Kein Einwegplastik, kein Fastfood, keine Chemie. “Wir machen alles selber”, betonen die Brüder zeitgleich aus einem Mund – eine wesentliche Zutat im Forest Jump Rezept, wenn nicht die wichtigste. Das fängt beim Bandbooking zehn Monate vor der Veranstaltung an, zieht sich durch die komplette Infrastruktur mit selbstgebauten Duschen und Komposttoiletten mit einem Becher Sägespäne statt Wasserspülung und hört nirgendwo so wirklich auf.

Foto: Sabrina Beyer

Keine extreme Schlangenbildung, kein Gedrängel, kein Unmut ist zu spüren. “Vielleicht fällt gelegentliches Warten aber auch einfach nicht auf”, erklärt Tischler Felix, der in Vaters Handwerksbetrieb in Pretzier mitarbeitet. Dafür sorgen die 27 festen Mitglieder des Forest Jump Vereins und die 100 Helfer auf dem Gelände. Dazu kommt: “jeder Besucher steht immer, egal wo er sich gerade befindet, in front of stage, hat bestes Sounderlebnis, verpasst eben nüscht.”, schiebt der studierte Veranstaltungsmanager und -techniker Tillmann nach. Ja, die Bühne – oder das, was sich beim Festival darauf zwischen Rock, Pop, Elektro, Hardcore, Punk und Rap abspielt – ist Herzstück. Ganz klar, doch alles andere habe genauso Gewicht und “wenn die Planung stimmt, macht das die Füße weicher”, jeder einzelne renne sich nicht mehr die Hacken wund. Sein Job ist das Bandbooking und alles was beim Festival selbst mit Bandbetreuung und Bühnenprogramm zu tun hat. Das Erfolgsgeheimnis? “Ganz einfach: wir buchen unsere Lieblingsbands”, lässt der Gesichtsausdruck keinen Zweifel offen, dass hier kein Zwinkern als Ironiewarnung folgen wird. Er meint es ernst. In der Musik-Booking-Welt habe sich inzwischen herumgesprochen, dass beim Forest Jump auch optimale technische Bedingungen für die Bands herrschen, “sonst würden Bands aus England doch nie so kleine Konzerte spielen.” Darüber hinaus landen jährlich um die 250 Bandanfragen im Posteingang und “wir probieren ernsthaft, alle komplett durchzuhören.” Dann muss eine Entscheidung fallen. Der Gradmesser dabei: “Es muss knistern im Kopf!”

Und während mich der “Bierkipper” – ein bemerkenswertes Patent für “So-bekommt-man-am-schnellsten-Bier-aus-Flaschen-in-Becher” fasziniert, ich über die absolut fairen Speise- wie Getränkepreise – mit “Wasser-für alle-umsonst-Idealismus” staune und mich die riesige Schaukel auf dem Gelände ins Kleinmädchengefühl einlullt, festigt sich der Gedanke, dass die Forest Jump Crew wohl einfach die Glücksformel fürs freundschaftliche Wohlbefinden gefunden hat. “Unsere Jahresbelohnung”, bezeichnet Felix die drei Wochen mit Kumpels und Kumpelinen im Wald zusammen sein und gemeinsam ein Festival auf die Beine stellen. Als wäre nichts weiter dabei. Nur Leichtigkeit, Knistern und Frieden. Hygge auf altmärkisch eben.

Foto: Sabrina Beyer

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